Chiharu Shiota | Kunsthalle Prag

Chiharu Shiota | Kunsthalle Prag

Kunsthalle Prag Chiharu Shiota

Chiharu Shiota, geboren 1972 in Osaka, Japan, ist eine international bekannte zeitgenössische Künstlerin, die vor allem für ihre großflächigen, raumfüllenden Fadeninstallationen berühmt geworden ist. Ihre Arbeiten bewegen sich im Grenzbereich zwischen Installation, Performance und Skulptur und thematisieren zentrale menschliche Erfahrungen wie Erinnerung, Identität, Vergänglichkeit und die Suche nach Zugehörigkeit. Shiotas künstlerische Sprache ist unverwechselbar und zieht Betrachterinnen und Betrachter mit ihrer poetischen wie auch oftmals verwirrenden Ästhetik in den Bann. Durch die Verwendung feiner Fäden – meistens in Rot oder Schwarz – erschafft sie dichte Netze, die Alltagsgegenstände wie Schlüssel, Stühle, Türen oder Kleider umspinnen und in ein neues, traumähnliches Licht rücken.

Im Jahr 2023 eröffnete Shiota ihre erste Ausstellung in der Tschechischen Republik in der frisch eröffneten Kunsthalle Prag. Diese Ausstellung, die einen zentralen Platz im Programm der Kunsthalle einnimmt, vertieft Shiotas Auseinandersetzung mit Themen wie Erinnerung, menschliche Beziehungen und die unsichtbaren Verbindungen, die uns alle miteinander verbinden. Besucherinnen und Besucher können sich in großflächige, immersive Installationen hineinbegeben, bei denen die charakteristischen roten Fäden über großformatige Raumstrukturen und Objekte gespannt sind.

Dabei wird deutlich, wie Shiota vertraute Alltagsgegenstände oder Symbole in ein dichtes Netzwerk einbindet, um Fragen nach Identität und Vergänglichkeit zu stellen. Die Kunsthalle Prag setzt mit dieser Ausstellung ein klares Zeichen für die Bedeutung zeitgenössischer Positionen in Europa und bietet zugleich einen eindrucksvollen Rahmen, um Shiotas raumgreifende Installationen in einer neuen Umgebung zu entdecken.

Shiota begann ihre künstlerische Ausbildung an der Kyoto Seika University in Japan (1992–1996), wo sie sich zunächst mit Malerei beschäftigte. Schon früh merkte sie jedoch, dass die zweidimensionale Fläche ihre kreativen Ideen nicht umfassend genug transportieren konnte. Ihr Interesse an performativen Ausdrucksformen und dreidimensionalen Arrangements führte sie schließlich an die australische Canberra School of Art. Dort fand sie eine Offenheit für medienübergreifende künstlerische Experimente, die sie weiter bestärkte. Anschließend wechselte sie nach Deutschland an die Hochschule für Bildende Künste Braunschweig, wo sie unter anderem bei Marina Abramović studierte. Diese Begegnung mit der international renommierten Performance-Künstlerin prägte Shiotas Arbeit nachhaltig, indem sie den performativen, körperlichen und auch emotionalen Aspekt in ihrer eigenen Kunst intensivierte.

Chiharu Shiota | Mit allen Sinnen

In Chiharu Shiota Werk steht der Körper oft im Mittelpunkt: In ihren früheren Performances thematisierte sie beispielsweise die Zerbrechlichkeit und Verwundbarkeit des menschlichen Körpers. Später verlegte sie sich zunehmend auf Installationen, in denen sie alltägliche Objekte in neue Zusammenhänge stellte und dabei mit Materialien arbeitete, die stark metaphorisch aufgeladen sind. Die berühmten Wollfäden, mit denen sie häufig arbeitet, symbolisieren in vielen Kulturen das Schicksal, die Lebenslinien oder die Verbindungen zwischen Menschen. In Shiotas Händen werden diese Fäden zu dichten Geflechten, die Raum und Objekte umspannen und damit das Gefühl vermitteln, in einer anderen Realität gefangen oder behütet zu sein.

Kunsthalle pragEine ihrer bekanntesten Installationen ist „The Key in the Hand“, die Shiota 2015 im Japanischen Pavillon auf der 56. Biennale di Venezia präsentierte. In dieser monumentalen Arbeit hingen tausende rote Fäden von der Decke, an denen unzählige alte Schlüssel befestigt waren, die sie aus der ganzen Welt zusammengesammelt hatte. Im Zentrum befanden sich zwei hölzerne Boote, die unter diesem dichten, blutrot wirkenden Netz scheinbar schwebten. Diese Installation verweist auf kollektive Erinnerungen, Reisen, Übergänge und Schwellenzustände. Die Schlüssel stehen symbolisch für Zugänge, verlorene Orte, aber auch für das Öffnen und Schließen von Erinnerungen. Mit den Booten assoziiert man Aufbrüche, Schutzräume und gleichzeitig auch Verletzlichkeit, da ein Boot auf dem offenen Meer stets von äußeren Kräften abhängt.

Ein bemerkenswertes Beispiel für Shiotas vielseitiges künstlerisches Schaffen ist ihr Engagement an der Kieler Oper. Dort entwarf sie ein Bühnenbild, das ihre charakteristischen Fadeninstallationen in den Kontext der darstellenden Kunst überführte. In enger Zusammenarbeit mit dem Regieteam entwickelte sie ein Szenenbild, in dem dichte rote und schwarze Wollfäden die Bühne in ein geheimnisvolles Netzwerk verwandelten. Dieser Ansatz verband Shiotas künstlerische Handschrift – die Auseinandersetzung mit Erinnerung und Identität – mit den dramaturgischen Anforderungen des Opernstoffs.

Durch die raumgreifende Gestaltung wurden die Sängerinnen und Sänger Teil des Geflechts, das sie umgab und gleichzeitig in ihrem Ausdruck bestärkte. Für die Zuschauerinnen und Zuschauer ergab sich so nicht nur ein optisch beeindruckendes Erlebnis, sondern auch eine inhaltliche Vertiefung: Die Fäden versinnbildlichten emotionale Verstrickungen, Schicksalslinien und das Verwobensein von Vergangenheit und Gegenwart, was in einem Opernkontext besonders eindringlich zur Geltung kam. Shiotas Engagement an der Kieler Oper zeigt damit, wie ihre Kunst stets neue Dialoge eingeht und selbst in einem Bühnenraum, der normalerweise von Musik und Gesang dominiert wird, eine unverwechselbare poetische Kraft entfaltet.

Chiharu Shiota | Eine intensive ästhetische Erfahrung

Shiotas künstlerisches Werk lebt insgesamt von dieser Mischung aus subtiler Symbolik und intensiver ästhetischer Erfahrung. Die räumlichen Installationen überfordern häufig bewusst die Sinne: Das Geflecht aus tausenden von Fäden erzeugt eine geradezu körperliche Präsenz und wirkt mitunter verwirrend. Man fühlt sich in diesen Installationen klein und zugleich geborgen, fast wie in einem Kokon. Die hängenden Objekte – seien es Schuhe, Schlüssel, Koffer oder Kleidungsstücke – lassen stets die Frage nach den Geschichten und den Menschen dahinter anklingen. Shiota spielt mit Assoziationen, während sie in ihren Ausstellungen häufig persönliche Erfahrungen und kollektive Erlebnisse kunstvoll verknüpft.

Chiharu ShiotaEin zentrales Thema in Shiotas Arbeit ist die Frage nach Erinnerung und Identität. Aufgrund ihrer eigenen Biografie – das Verlassen ihrer Heimat, das Studium in verschiedenen Ländern und das letztliche Leben in Berlin – kreisen ihre Arbeiten oft um die Empfindung von Heimat, Fremde, Verlust und Wiederentdeckung. In Interviews betont sie, dass sie Objekte wie Schuhe oder Kleider deswegen wählt, weil diese den menschlichen Körper andeuten, also Stellvertreter einer abwesenden Person sind. Wenn sie solche Objekte in großformatigen Installationen massenhaft präsentiert, verweisen sie auf das Leben zahlreicher Menschen: deren Vergangenheit, Hoffnungen, Träume. So schafft sie eine kollektive Erzählung, in der sich individuelle Geschichten zu einem gemeinsamen Ganzen verweben.

In Museen und Galerien weltweit finden ihre Werke große Beachtung. Zu ihren wichtigen Ausstellungen zählen etwa Präsentationen im Gropius Bau in Berlin, im SCAD Museum of Art in Savannah, im Museum on the Seam in Jerusalem oder im Mori Art Museum in Tokio. Shiota beeindruckt durch ihre stetige Weiterentwicklung und ihre Fähigkeit, immer neue Dimensionen ihrer Fadenkunst zu entdecken. Mal sind es raumgreifende Installationen, in denen hunderte Stühle in einem Netz zu schweben scheinen, mal raumhohe Konstruktionen, in denen Kleidungsstücke oder Handabdrücke eingewoben sind. Bei einer anderen Ausstellung stellte sie Krankenhausbetten, Türrahmen oder ganze Hausfragmente in ihre filigranen Fadennetze – stets mit dem Ziel, einen ambivalenten Raum zwischen Geborgenheit und Beklommenheit zu schaffen.

Darüber hinaus bindet Chiharu Shiota den performativen Aspekt manchmal immer noch in ihr Schaffen ein. So kommt es vor, dass sie selbst oder andere Performerinnen und Performer inmitten ihres dichten Fadengespinsts agieren und so die Grenze zwischen Installation und Performance auflösen. Für sie ist Kunst stets körperlich und emotional erfahrbar – eine Einladung an das Publikum, sich selbst mit eigenen Erinnerungen und Gefühlen zu beschäftigen. Dabei versucht Shiota bewusst, universelle Themen anzusprechen, sodass Menschen unterschiedlicher Herkunft und Kulturzugänge ihre eigenen Bedeutungen in die Installationen hineintragen können.

Chiharu Shiotas Werk ist damit nicht nur eine visuelle, sondern auch eine zutiefst sinnliche Erfahrung. Die Intensität der Farben – meistens Rot, seltener Schwarz oder Weiß – verstärkt die emotionale Wirkung. Rot assoziiert Leben, Blut, Wärme, aber auch Gefahr. Schwarz hingegen erinnert an Schatten, Leere oder Tod. Beide Farbtöne sind elementar, sie schaffen Kontraste und rufen beim Betrachter sofort starke Bilder hervor. Shiota nutzt diese Effekte, ohne sie jedoch vordergründig zu dramatisieren; sie bleiben als Teil ihrer künstlerischen Symbolsprache stets subtil und offen für Interpretationen.

Indem Chiharu Shiota vergängliche Materialien wie Wolle einsetzt, verweist sie außerdem auf die Ephemerität unseres Daseins und auf die Zerbrechlichkeit menschlicher Beziehungen. Ein Netzwerk aus tausenden Fäden kann in wenigen Minuten zerschnitten und zerstört werden – genauso, wie ein scheinbar stabiles Gefüge aus Erinnerungen, Orten oder Beziehungen zerfallen kann. Dennoch wohnt ihren Installationen stets auch ein Moment von Schönheit und Hoffnung inne, wenn sie davon sprechen, dass Verbindungen zwar brechen mögen, aber dennoch Spuren hinterlassen, aus denen Neues entstehen kann.

Kunsthalle PragDurch ihre konsequente Auseinandersetzung mit universellen Themen hat Chiharu Shiota längst einen festen Platz in der internationalen Kunstwelt erobert. Ob in Museen, Galerien, auf der Opernbühne in Kiel oder nun auch in der Kunsthalle Prag: Ihre Werke faszinieren durch ihre Fähigkeit, das Sichtbare und das Unsichtbare, das Persönliche und das Kollektive in einem unlösbaren Fadengewirr zu vereinen. Gerade ihre Offenheit gegenüber neuen Formaten und Kollaborationen macht sie zu einer der spannendsten Künstlerinnen unserer Zeit. Shiota zeigt, wie tiefgreifend sich Existenzfragen, Erinnerungen und Emotionen in einem Gesamtkunstwerk ausdrücken lassen und schafft es immer wieder, das Publikum in ein feingliedriges, emotional aufgeladenes Universum zu entführen.

Am Ende bleibt die Frage, wer wir morgen sein werden – und welche inneren Prozesse uns dahin führen. Shiotas Installationen verweisen darauf, dass unser Innenleben und unsere äußeren Strukturen viel enger verwoben sind, als wir häufig vermuten. Auf diese Weise wird das Persönliche politisch und das Intime öffentlich. Jede Besucherin, jeder Besucher mag selbst entscheiden, welche Facetten von Shiotas traumhafter, zugleich so realer Welt im Gedächtnis nachhallen. Fest steht: Mit Werken wie „Who am I Tomorrow?“ im Kunstraum Dornbirn und der Ausstellung in der Kunsthalle Prag schafft Chiharu Shiota Räume, die uns anregen, tief in unsere eigene Psyche und zugleich in ein gemeinsames Menschsein hinein zu blicken.

Chiharu Shiota | Kunsthalle Prag